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| - Es ist der Kopfschmerz, der ihn wieder zu Bewusstsein bringt. Sein Schädel ist angefüllt mit einem dumpfen, hämmernden Dröhnen, in das sich ein gellendes Stechen mischt, als hätte er zu schnell die größte Eisbombe der Welt gegessen. Selbst der schlimmste Kater, den er je hatte, macht sich gegen das Gefühl in seinem Kopf wie ein leichter Schwindel aus. Während sich der Nebel, der seinen Verstand einhüllt, langsam lichtet, ertönt hinter ihm eine Stimme. Als er sich umwenden will, um nach der Quelle der Stimme zu sehen, bemerkt er, dass er festsitzt. Sein Körper scheint an einer Art Stuhl gefesselt zu sein. Er öffnet die Augen und sieht... nichts. Finsternis umgibt ihn. Er versucht sich aus der Umklammerung seiner Fesseln zu lösen, aber sein Körper bewegt sich keinen Zentimeter. Er zuckt zusammen, als die Stimme plötzlich vor ihm ertönt. Wie konnte sie so schnell ihren Platz wechseln? Warum hat er keine Schritte gehört? Was passiert hier? Er horcht in die Dunkelheit, aber ihm ist, als schwebe er in einem weiten, leeren Raum. LICHT! Er kneift die Lider zusammen, als Helligkeit in seine Augen sengt, aber selbst dann dringt ein hellgelber Glast hindurch. Irisierende Punkte tanzen auf seiner Netzhaut, als das Licht wieder erlischt. Der Kopfschmerz fällt mit unverminderter Bösartigkeit wieder über ihn her. Er gibt einen langen, gequälten Ton von sich. Diesmal ist es lediglich ein dunkles Rot, welches durch seine Augenlider schimmert. Misstrauisch öffnet er sie vorsichtig. Langsam erkennt er eine Lampe auf einem Tisch, hinter dem er schemenhaft eine menschliche Gestalt wahrnimmt. Der Umriss des Kopfes wirkt merkwürdig. Es gelingt ihm, selbst Worte zu formen: „We... Wo bin ich? Wer sind sie? Wie komme ich hierher?“ Erneute Finsternis ist die einzige Antwort, die er erhält. Ein Schrei entfährt seiner Kehle, als das Licht wieder aufflammt und eine grauenhafte, totenbleiche Fratze unmittelbar vor seinem Gesicht enthüllt. Er presst sich tiefer in den Sitz hinein. Dann erlischt die Lampe wieder und verbirgt das Ungeheuer seinen Blicken. Warum wacht er nicht aus diesem Albtraum auf? Das alles kann nicht real sein. Es DARF nicht real sein. Aber der rasende Schmerz in seinen Augen ist kein Traum. Und die Stimme ist nicht die eines Monsters. Sie klingt im Gegenteil irgendwie... geschäftsmäßig. Wieder wird es hell, doch diesmal wird er nicht geblendet. Der Raum ist gleichmäßig von Licht erfüllt. Drei Meter vor ihm steht ein Tisch, auf dem ein merkwürdiges helles Bündel liegt. Auf dem Stuhl dahinter sitzt ein Mann in einem weißen Overall. Der Mann nimmt das Bündel vom Tisch und hält es hoch. „Was haben Sie gegen mich? Warum tun Sie das? Was wollen Sie von mir?“ Er stößt die Fragen heraus, ohne darüber nachzudenken. Seine Stimme klingt rau und fremd. Er lässt seinen Blick durch den Raum wandern. Die Wände scheinen mit Schallschutzmatten bedeckt zu sein. Der Mann hinter dem Tisch betrachtet ihn kühl, wie ein Forscher ein Insekt studiert, bevor er es aufspießt. Unvermittelt beginnt der Mann zu reden. „Um Ihre Fragen zu beantworten, Herr Kantor: 1.
* Sie befinden sich in einem seit sechzehn Jahren leerstehenden, sehr unzugänglich gelegenen Bauernhof, etwa 40 Autominuten von der Bar entfernt, in der Sie vor wenigen Stunden einen Drink zu sich genommen haben. 2.
* Ich bin Ihr Tod, aber wenn Sie möchten, können Sie mich ‚Winter’ nennen. 3.
* Während Sie vorhin auf der Toilette waren, habe ich Ihnen K.O.-Tropfen in Ihren Planters Punch geträufelt, Sie in meinen Wagen verfrachtet, hierher gefahren und auf diesen Stuhl gefesselt. Die Kopfschmerzen und die gesteigerte Lichtempfindlichkeit sind eine Nebenwirkung der Droge, einer Rezeptur aus verschiedenen Benzodiazepinen, Scopolamin und Amobarbital, ebenso die Gedächtnislücken. 4.
* Ich habe nichts gegen Sie. 5.
* Ich tue dies, um mich in den Besitz von 150.000 Britischen Pfund zu bringen. 6.
* Ich möchte, dass Sie meine Frage beantworten. Sind sie bereit?“ Das ist verrückt. Das ergibt alles keinen Sinn. Wenn es um Geld geht, warum will dieser Mann ihn dann töten? „Ich habe keine 150.000 Britische Pfund“ erwidert er verwirrt. Irgendetwas ist falsch. Irgendetwas von dem, was dieser Wahnsinnige gerade gesagt hat, ist falsch gewesen. Er versucht, sich trotz der Kopfschmerzen zu konzentrieren. Er versucht herauszufinden, wo der Fehle... „Was bedeutet: ‚50.000 Pfund pro Lieferung’?“ Der Mann zieht ein Blatt aus einer Tasche seines Overalls und faltet es auseinander. Sein Blick wandert über das Papier, dann liest er vor: Er versucht sich in seinem Sitz aufzubäumen. „Wenn Sie meiner Familie etwas antun, dann...“ keucht er, doch der Mann, der sich ‚Winter’ nennt, schneidet ihm das Wort ab: Seine Gedanken rasen. Er schließt seine Augen, während er versucht, einen Sinn in das soeben Gehörte zu bringen. Seine Stimme klingt gequält: „Wieviel Zeit habe ich bis Mitternacht?“ Der Mann erhebt sich. Der Mann, der sich ‚Winter’ nennt, entfernt sich. Es wird wieder dunkel im Raum. Eine Türe wird geöffnet, dann eine zweite, die anders als die vorherige krachend ins Schloss fällt. Schwach ist entferntes Motorengeräusch zu vernehmen, das rasch verebbt. Minutenlang horcht er in die Stille, aber es kehrt nicht zurück. Mitternacht! Bis Mitternacht hat er Zeit. Aber wieviel Zeit ist das? Und wenn dieser Irre gerade jetzt unterwegs ist, um seine Familie zu töten? Nein! Er hat keine Zeit. Er muss hier schnellstmöglich raus. Er versucht erneut, seine Fesseln zu lösen. Diesmal prüft er systematisch den Sitz jedes Körpergliedes. Erfolglos bemüht er sich so, seine Beine zu befreien. Als er sein linkes Handgelenk heben will, ruckt plötzlich sein ganzer Unterarm einen Fingerbreit in die Höhe. Er hält inne. Die linke Armlehne seiner „Sitzgelegenheit“ scheint lose zu sein. Er spannt seinen Bizeps an, um den ganzen Unterarm hochzuklappen. Die Lehne bewegt sich erneut nach oben. Er weiß nicht, wie oft er den Vorgang wiederholt. Plötzlich rutscht die Armlehne aus ihrer Verzapfung. Ein scharfes Stechen durchfährt seine Schulter, als sich die Spannung in ihr löst. Sein linker Arm ist frei. Sofern man von Freiheit sprechen kann, solange ein Stück Holz weiterhin an ihm festgebunden ist. Er versucht, seinen rechten Arm zu berühren, doch eine Sprosse der Armlehne bleibt an seinem Oberschenkel hängen. Durch ein schmerzhaftes Verdrehen seines linken Unterarms gelingt es ihm, sein rechtes Handgelenk erreichen. Wie viel später er sich aus der Umklammerung seiner Fesseln befreit hat, weiß er nicht. Er hat sein Zeitgefühl völlig verloren. Seine Halswirbel knacken, als er den Kopf in die vermutete Richtung der Tür dreht, doch die Schwärze um ihn ist eine vollkommene. Er versucht aufzustehen, doch seine Beine geben nach, und er sackt zusammen. Minutenlang liegt er auf dem dünnen Teppichboden, der den Fußboden zu bedecken scheint. Ameisen krabbeln unter seiner Haut, während die Taubheit in seinen Gliedern nachlässt und die Blutzirkulation wieder in Gang kommt. Er erhebt sich mühsam. Mit gespreizten Fingern und vorgestreckten Armen bewegt er sich durch die Finsternis. Etliche Minuten – oder sind es Stunden? – später hat er die Tür des Raumes erreicht und nimmt zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit Licht wahr. Es scheint die Außentür des Gebäudes zu sein, unter der ein schmaler Streifen Helligkeit durchschimmert. Langsam tastet er sich auf sie zu. Er findet die Türklinke und drückt sie nieder. Die Türe ist nicht verschlossen. Vorsichtig öffnet er sie einen Spaltbreit und späht hinaus in eine sternenklare Nacht. Niemand ist zu sehen. Er öffnet die Türe weit genug, um hindurchschlüpfen zu können und... taumelt entsetzt zurück, als eine dämonisch-bleiche Grimasse aus der Dunkelheit auf ihn zuschnellt. Gerade noch realisiert er, dass es sich um die gleiche Maske handelt, die ihn schon einmal erschreckt hat, als der Boden unter seinen Füßen nachgibt. Sein Sturz endet nach etwa zwei Metern in einer trichterförmigen, sich nach unten verjüngenden Grube, welche kaum breiter ist als seine Schultern. Seine Füße sind in schmerzhaften Winkeln zusammengequetscht. Sein rechter Arm wird von der Enge unbequem nach oben gezwungen, während der linke zwischen Hüfte und Grubenwand eingeklemmt ist. Gequält und hoffnungsverloren schaut er nach oben und blickt in das unergründliche Gesicht seines Peinigers. Gleich darauf ergießt sich ein zäher, klumpiger, milchigweißer Brei in die Grube. Als der Strom versiegt, füllt die Substanz sein Gefängnis bis knapp unter seine Schultern. Wieder vernimmt er die sachliche, emotionslose Stimme seiner Nemesis. Hasserfüllt blickt er den Mann in dem weißen Overall an. „Vielleicht halte ich so ja bis Mitternacht durch. Sie sagten, wenn ich um Mitternacht noch lebe, lassen Sie mich gehen.“ Er starrt ausdruckslos auf die Grubenwand vor sich, dann beginnt er tonlos zu lachen. „Ich hatte also nie wirklich eine Chance“, sagt er leise. Er merkt, wie der Gips langsam zu erhärten beginnt. Sein Atem wird flacher, während es seinen Lungen zunehmend schwerer fällt, sich Raum zu verschaffen. Ein letzter Hoffnungsfunke glimmt in seinen Gedanken auf, und es gelingt ihm, seiner Panik Herr zu werden: „Werden Sie meiner Familie etwas antun?“ Winters Stimme scheint sich langsam zu entfernen. Er versucht, nach ihm zu rufen, aber es ist kaum mehr als ein Flüstern, das er hervorbringt: „Winter?“ „Wegen Ihrer Frage...“ Die Stimme seines Henkers wird freundlicher: Er nickt unmerklich mit dem Kopf. Seine Worte sind so leise, dass er nicht sicher ist, ob er sie spricht oder nur denkt: „Ja. Die Antwort ist: Ja! Ja, ich bin bereit.“ Die Erwiderung darauf dringt wie durch Watte an sein Ohr. Sie klingt sanft, beinahe zärtlich: Sein Atem ist kaum noch hörbar. Er denkt an Madeleine und seine kleine Marianne. Die beiden sind so schön. Sie lächeln ihm zu. Auch er lächelt. Das Bild verschwimmt, wird heller, strahlender. Licht erfüllt sein Denken. Danach: Schwärze... by Horrorcocktail
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